Mathematik
Differentialrechnung
01-Inhaltsangabe
02-Vorbemerkung
03-Berkeley
04-Lösungs-Suche
05-Beispiel Zenon
06-Torricelli
04-Lösungs-Suche

 

04.    Suche nach Lösung der Paradoxie

 

         04.1  Die Paradoxie noch einmal neu formuliert:

 

Newtons Paradoxie (oder die Paradoxie der Differentialrechnung) ist hier noch einmal etwas anders, und zwar mit Hilfe der Sinusfunktion dargestellt.

Einerseits scheint das Verfahren rein logisch widersprüchlich zu sein, was Berkeley ausdrücklich betont. Andererseits ist das Verfahren rein pragmatisch völlig korrekt. Auch das anerkennt Berkeley.

Es ist beispielsweise der Quotient  (sin ∆x)/∆x  für kleine ∆x (fast) 1. [Also salopp geschrieben: (sin 0,...1°)/0,...1 = 0,00...1 / 0,00...1 ~ 1 ]. Und nichts hält den Prozess „der Einswerdung“ auf, wenn man ∆x=1/10n systematisch immer kleiner nimmt, wenn ∆x also gegen 0 geht. Jedoch andererseits muß sowohl im Zähler als auch im Nenner immer eine Zahl > 0 stehen:  ∆x darf nie = 0 sein! Das wiederum bedeutet: der Quotient sn wird niemals exakt = 1 sein (vgl. dazu auch Tabelle 04(2) im Vergleich zu Tabelle 04(1), wo man sieht, daß offenbar lediglich die Ungenauigkeit der Berechnung irgendwann den Wert sn = 1 ausgibt). - Und dennoch ist es pragmatisch richtig, daß der Quotient sn (‘schließlich’) = 1 ist.

z.B. für n=2 gilt: sin (1/100) / 1/100 = 0,0099998333 / 0,01 = 0,999983333417

 

Tabelle 04 (1) - 12 Stellen nach dem Komma

n

∆x = 1/10n

sin (1/10n)

sn = (sin ∆x) / ∆x

1

0,100000000000

0,099833416647

0,998334166468

2

0,010000000000

0,009999833334

0,999983333417

3

0,001000000000

0,000999999833

0,999999833333

4

0,000100000000

0,000100000000

0,999999998333

5

0,000010000000

0,000010000000

0,999999999983

6

0,000001000000

0,000001000000

1,000000000000

7

0,000000100000

0,000000100000

1,000000000000

8

0,000000010000

0,000000010000

1,000000000000

9

0,000000001000

0,000000001000

1,000000000000

10

0,000000000100

0,000000000100

1,000000000000

 

Tabelle 04 (2) - 20 Stellen nach dem Komma

n

∆x = 1/10n

sin (1/10n)

sn = (sin ∆x) / ∆x

1

0,10000000000000000000

0,09983341664682820000

0,99833416646828200000

2

0,01000000000000000000

0,00999983333416667000

0,99998333341666700000

3

0,00100000000000000000

0,00099999983333334200

0,99999983333334200000

4

0,00010000000000000000

0,00009999999983333330

0,99999999833333300000

5

0,00001000000000000000

0,00000999999999983333

0,99999999998333300000

6

0,00000100000000000000

0,00000099999999999983

0,99999999999983300000

7

0,00000010000000000000

0,00000010000000000000

0,99999999999999800000

8

0,00000001000000000000

0,00000001000000000000

1,00000000000000000000

9

0,00000000100000000000

0,00000000100000000000

1,00000000000000000000

10

0,00000000010000000000

0,00000000010000000000

1,00000000000000000000

 

Folglich muss  bei diesem Gesamt-Prozess in einem Ausdruck der Form 1 – sn = Bn  der Term Bn allmählich gleich 0 werden. 

Und von welcher Seite man die Sache betrachtet, von der formell logischen oder von der pragmatischen, jede Seite scheint ihr eigenes Recht zu haben. Doch haben sich die Mathematiker und Physiker natürlich mit gutem Grund auf die pragmatische Seite geschlagen und die philosophische Seite der paradoxen Problematik weggedrängt. Vor allem die Epsilontik (des 19. Jhdts. Cauchy, insbesondere Weierstraß) habe, weil sie die naive Idee ‚unendlich kleiner Größen’ überflüssig gemacht hätte, tatsächlich das Problem, das hinter der Idee dieser „Größen“ steckt,[1] beseitigt. Die glasklare Epsilontik hat jedoch meiner Ansicht nach das eigentliche philosophische Problem lediglich der Wahrnehmung entzogen. Es scheint mir zweifelsfrei: auch Newton wusste sehr wohl, was im konkreten Fall ein Grenzwert ist , wie Cauchy diesen 1821 allgemein definierte:

 

    <Wenn sich die zu einer Variablen gehörenden, aufeinander folgenden Werte einem festen Wert unbeschränkt in der Weise nähern, daß sie sich von diesem so wenig unterscheiden, wie man möchte, dann heißt dieser feste Wert Grenzwert des anderen.> [2]

 

 

Der Unterschied Newtons zu den späteren Mathematikern des 19.Jhdts. scheint mir eher darin zu liegen, daß die letzteren sich nicht mehr in Fallstricke der „eigentlichen“ Bedeutung verfangen lassen wollten und deswegen einer Art szientistischer Reinlichkeit huldigten, die die Fragen des „eigentlichen“ Verständnisses ad acta legt, während Newton noch so altmodisch war und sich mit dem Versuch einer Erklärung der ‚Momente’ eine Blöße gab, weil er sich einen geistigen Reim auf die Sache machen wollte. Berkeley wird in seiner Schrift nicht müde auf dieser scheinbaren Schwäche Newtons herumzuhacken und ihre logische Absurdität aufzuzeigen -  ohne jedoch selber eigene Lösungsideen beizusteuern. Vielleicht waren es die produktiven Mathematiker müde, sich von gelehrten Laien derart vorführen zu lassen und unterließen seitdem alle spekulativen Äußerungen, so dass ihren  mathematischen Ausführungen seitdem, zu ihrem traditionellen Erklärungsgeiz, noch zusätzlich etwas formell-lebloses anhaftet.

 

         04.2  Worin könnte eine Lösung des Problems liegen?

 

Ich möchte zunächst eine Analogie zu den imaginären Zahlen aufzeigen:

Vom Gesichtspunkt der Existenz allein der ‘reellen Zahlen’ (früherer Zeiten) [3] aus kann es keine Lösung der Gleichung x² = -1, oder x² = -4 o.ä. geben. Deswegen wurden „Wurzeln“ (Lösungen) etwa der Form img002  als „imaginäre“ Wurzeln bezeichnet, sie erschienen als Zahlen logisch unmöglich, denn jede „Zahl“ (im alten Sinne) kann nur entweder positiv oder negativ sein, und mit sich selbst multipliziert kann das Ergebnis jedenfalls nur positiv sein.

Auch hier mussten sich die Mathematiker durchringen, auf der Seite des Pragmatismus zu stehen, und beseitigten schließlich das logische Problem, indem sie behaupteten, die „reellen“ (also die normalen) Zahlen, seien nur eine Teilmenge der „komplexen Zahlen“, welchletztere als weitere Teilmenge auch die imaginären „Zahlen“ beinhalten; die „Einheit“ der „imaginären Zahlen“ sei Wurzel aus minus 1. Sie benannten diese kuriosen imaginären Gebilde einfach mit einem neuen Namen und zeigten mit Hilfe der Gaußschen Zahlenebene, daß hier eine wohltuende Ordnung (ein neues ‘System’) waltet, und dass man mit diesen Gebilden mathematisch schlüssig umgehen kann, und sich viele mathematische Angelegenheiten dadurch klären lassen.[4] Eine weitere Diskussion darüber, was diese Gebilde „eigentlich“ bedeuten, ist mir nicht bekannt.[5]

 

Analog denke ich mir, müsste die Paradoxie der Differentialrechnung sich im Rahmen eines „umfassenderen“ Gebildes aufheben lassen.

 

Ich vermute, die leitende Idee, die hinter dem problematischen philosophischen Erklärungsversuch der `Momente´ Newtons steckt, ist die aus der Antike überlieferte Idee des Atomismus. Demnach wird jede Realität, jede Ganzheit aus Teilen zusammengesetzt, und irgendwann, wenn man immer weiter die Stufenleiter der Zusammensetzungen hinuntergeht, gibt es letzte kleinste Teilchen, aus denen sich alles zusammensetzt, die Atome. Und alles wird dadurch erklärbar! Doch verstrickt man sich dann zwangsläufig in Paradoxien, vor denen man gerne die Augen verschließt, sofern einem jener Atomismus, als das einzig Plausible erscheint.

 

 

 

 

        Professor_Dahrendorf_with_Rodrigo_Moyniham-560

Professor Dahrendorf [Mitte] with Rodrigo Moyniham R.A. [rechts], July 1984. London School of Economics. - siehe Wikimedia

 

Eine solche Paradoxie ergibt sich beispielsweise bei der Betrachtung der gesellschaftlich -menschlichen Realität. Einerseits denkt man sich quasi natürlicherweise die Gesellschaft als aus den Individuen zusammengesetzt und darum allein aus ihnen erklärbar. Andererseits ist aber leicht zu zeigen, wovor die Meisten aber die Augen verschließen, dass die Individuen hauptsächlich ‘Produkte’ ihrer Kultur, ihrer Zeit, der sprachlichen, der organisatorischen und technischen Entwicklung, ihrer Familien-Sozialisation, der Institutionen,[6] der Traditionen und Modeströmungen, kurz: also ihrer Gesellschaft sind. Andererseits kann „die Gesellschaft“ nur durch die Individuen hindurch existieren, ohne diese Individuen und ihre unhintergehbaren allzumenschlichen Eigenschaften (beispielsweise ihre Gefühls- und Anerkennungs-Bedürfnisse) wäre sie in der Tat nicht existent. Man sieht, es muss irgendeine höhere Form der Erklärung her, die beides miteinander vereint. Heutzutage versucht man, nicht nur in der Gesellschaftstheorie, mit Hilfe der Leitidee ‘Systemtheorie’ [7] die Dialektik vom „Ganzen“ und seinen „Teilen“ anzugehen. [Siehe ‘Neuerlicher Hinweis (2017)’  am Ende dieses Absatzes]. Dahrendorf , der das soziologische Konzept der „Rolle“ für den deutschen Sprachraum publik machte, stößt in der Soziologie explizit auf die von mir benannte typische Paradoxie des Atomismus. Er nennt sie „das Paradox vom doppelten Menschen“.[8] Und zwar ist dies für ihn das Problem, wie er wissenschaftlich den „homo sociologicus“ [Kindle Edition, 7€] (den rollenbestimmten Menschen) mit dem „selbstverantwortlichen, freien Einzelnen“ [9] unter einen Hut bekommen kann. Mir ist außer vielen interessanten Details bezüglich dieser Thematik nicht aufgefallen, daß ihm eine Problemlösung (im wissenschaftlichen Sinne) gelungen ist.[10]  Seine Annahme ist wohl, dafür gäbe es keine eigentlich wissenschaftliche Lösung. Somit folgt, daß man in der Rolle als Sozial-Wissenschaftler gezwungen ist, den homo sociologicus zu betrachten und Dahrendorfs Schlussfolgerung ist die: „Wer die Melancholie der Unzulänglichkeit einer soziologischen Wissenschaft vom Menschen nicht zu ertragen vermag, sollte dieser Disziplin den Rücken kehren [...]“ [11]  Es bleibt Dahrendorf also offenbar nichts anderes übrig, als sich pragmatisch gegenüber dem „Paradox vom doppelten“ Menschen [12] zu verhalten.

Neuerlicher Hinweis (2017): In den letzten Jahren hat der Begriff der Emergenz (engl. to emerge: hervorkommen, entstehen, auftreten, auftauchen, erscheinen, empordringen, sich entwickeln, sich ergeben, sich herauskristallisieren, zum Vorschein kommen) eine offenbar prominente Position in der neueren Systemtheorie erlangt, wodurch die hier von mir dargelegten Ansichten eine wesentliche Bestärkung erfahren.  Siehe dazu:  Günter Dedié : Die Kraft der Naturgesetze: Emergenz und kollektive Fähigkeiten von den Elementarteilchen bis zur menschlichen Gesellschaft (2014) - Kindle Edition 10€).

 

 

Bevor ich dieses Konzept der Dialektik von Ganzheit und seiner konstituierenden Teile nun für die Differentialrechnung an allerlei Beispielen belegen werde, möchte ich noch kurz auf das intuitive Sträuben, das man gegen solcherlei `teleologische´ Sichtweise hegt, eingehen. Die Atomismusvorstellung legt es nahe, sich alles `Ganze´ lediglich aus der mehr oder minder zufälligen Konfiguration der Teile, der ‘Elemente’, der ‘Elemantarteilchen’, zu erklären. Ein vorbestimmter Bauplan ist etwas, was sich „letztlich“ irgendwie „materiell“ erklären lassen muss,  z.B. durch irgendeine hochkomplexe Zufallszusammenballung von vielerlei zufälligen Ereignissen, wie es etwa das Leben im Sinne der Darwinschen Vorstellung von Evolution darstellt. Meine Sichtweise plädiert nicht unbedingt gegen diese Vorstellung, sieht sie jedoch lediglich als einen Teilaspekt eines Systemkonzepts an. Es bleibt uns meines Ermessens nichts anderes übrig, als uns von diesem einseitigen Atomismuskonzept zu lösen und stattdessen ein anderes Konzept an seine Stelle zu setzen, eben das Konzept vom gegenseitigen Zusammenwirken eines jedweden Ganzen mit seinen Teilen, die selber wieder „Ganze“ auf einer anderen Ebene oder Stufe sind.[13] Nicht zuletzt die Paradoxie der Differentialrechnung, sobald man sie ernst nimmt, statt sie wegzudrängen, scheint mir dieses Konzept zu erzwingen. Jedes Neue, jedes „Ding“ kommt nur als Ganzes zur Welt und seine Einzelteile sind ihm gemäß organisiert - soweit die Eigenschaften der Einzelteile, die selber wieder Ganze sind, dies zulassen. So hangelt sich auch das biologische Leben von einfachen Ganzheiten zu komplexeren Ganzheiten im Laufe der Entwicklung. Sicher spielt da auch der Zufall eine gehörige Rolle. Nur soweit sich das (vorgegebene) einzelne Ganze mit anderem Einzelnen zur neuen Ganzheit organisieren kann, entsteht `Etwas´.

 

(Fortsetzung 05 - Zenon)

 


[1] „Die Schwierigkeit der Analysis...“ [lt. Hischer/Scheid, S. 114 (Anfang des Kapitels „Folgengrenzwert“) eine Formulierung von Papy, G.: Topologie als Grundlage des Analysisunterrichts, Göttingen 1970.]

[2] zitiert nach Hischer/Scheid, S.113

[3] Also sozusagen der „normalen“ Zahlen.

[4] Beispielsweise die Lösungen aller möglichen Gleichungen.

[5] Wenn ich mich nicht täusche, steht die philosophische Klärung der meines Ermessens  interessanten Frage, was diese komplexen Zahlen eigentlich bedeuten könnten, noch aus.

[6] vgl. das instruktive Bändchen von Dahrendorf: Homo Sociologicus.

[7] Teilweise wurde in Deutschland das Thema jahrzehntelang von genialischer Scharlatanerie eines universitären Großmeisters der Soziologie okkupiert.

[8] Dahrendorf, S. 68 ff.

[9] Dahrendorf, S. 71

[10] die meines Ermessens bei der Anwendung des Atomismuskonzepts („der selbstverantwortliche , freie Einzelne“) schwerlich möglich ist. Hier gibt es lediglich einen paradoxen Dualismus.

[11] Dahrendorf,  S. 73

[12] Dahrendorfs Formulierung.

[13] Vgl. dazu auch vom Standpunkt der modernen Atomphysik bzw. Quantenphysik: Fritjof Capra: Das Tao der Physik