Mathematik
Differentialrechnung
01-Inhaltsangabe
02-Vorbemerkung
03-Berkeley
04-Suche Lösung
05-Beispiel Zenon
06-Torricelli
07-Lösung & Abschluss
03-Berkeley

 

 

Newtons Paradoxie – von Berkeley verdeutlicht

 

03.1     Aufweisen der Paradoxie

  

Newton baut seinen Kalkül bzgl. dessen, was man inzwischen als „Differentialrechnung“ bezeichnet, 1686 in den „Principia“[1] auf dem „Increment“ des Rechtecks AB auf. Dies ist das Fundament für den Kalkül, der die Sache auf eine qualitativ höhere Stufe hebt - weg von der mühseligen Handarbeit, hin zum Formalismus.

Die Idee, die dahintersteckt ist einfach, klar und deutlich: Wenn die Seiten des Rechtecks veränderlich sind (wachsend oder abnehmend), ist somit auch der Flächeninhalt des Rechtecks veränderlich.

 

 

Ich möchte jetzt zunächst in der heute üblichen Schreibweise mit Hilfe eines einfachen Beispiels in die Paradoxie der Differentialrechnung einführen.

 

Sei der einfachste Fall des Rechtecks genommen, das Quadrat. Es habe den Flächeninhalt y und die Seitenlänge x; d.h. y = x². Dem Zuwachs der Seitenlänge des Quadrats ∆x entspricht immer irgendein gewisser Zuwachs an Flächeninhalt ∆y. Für den neuen Flächeninhalt y+∆y ergibt sich somit der einfache Zusammenhang zur neuen Seitenlänge x+∆x:

                           

                           y+∆y = (x+∆x)²

 

Sei z.B. ∆x = 1,7 cm, und sei der alte Flächeninhalt = 4 cm², d.h. die Seitenlänge des Quadrats x = 2 cm, so ist der neue Flächeninhalt

 

(4 cm² + ∆y cm²) = (2 cm + 1,7 cm)²

 

Ausmultiplizieren ergibt

                            y + ∆y =  x² + 2x . ∆x + (∆x)²

  

Im Beispiel ist der neue Flächeninhalt:

4 cm² + ∆y cm² = 4 cm² + 2 . 2 cm . 1,7 cm + 1,7² cm² = 13,69 cm²

                                                       

  

Und wegen y = x² gilt dann

 

                            y + ∆y =  + 2x . ∆x + (∆x)²

 

                                ∆y = 2x . ∆x + (∆x)²

 

Im Beispiel:        ∆y cm² = 2 . 2 cm . 1,7 cm + 1,7² cm² = 9,69 cm²

 

Das also ist die Differenz des neuen Flächeninhaltes (13,69 cm2 zum alten 4 cm2).

 

Soweit gibt es hier nix Mysteriöses. Wie ist es jedoch, wenn der Zuwachs ∆x ziemlich klein ist? Also etwa nur 1/100 cm = 1/10² cm?

Diese Frage taucht real-physikalisch z.B. auf, wenn es um die Momentangeschwindigkeit in einem Punkt geht. D.h., daß man immer exakter sich von der Durchschnittsgeschwindigkeit bzgl. einer ganzen langen Strecke (oder eines ganzen langen Zeitraums) löst, um die Geschwindigkeit für einen möglichst kleinen Streckenabschnitt und schließlich für einen gewissen momentanen Zeit-‘Punkt’ oder Orts-’Punkt’ der Strecke zu erhalten. In diesem Fall der Geschwindigkeit (v) würde man üblicherweise nicht von ∆y und ∆x reden, sondern konventionsgemäß von ∆x oder ∆s  (Weg, Strecke) und ∆t (Zeit). Man zeichnet die Weg-Zeit-Kurve und bildet dann das ‘Tangentendreieck’ für den jeweiligen Punkt an der Kurve, um den Quotient v= ∆s/∆t für die Momentangeschwindigkeit für einen bestimmten Zeitpunkt (oder Wegpunkt) zu erhalten. Z.B. kann es durchaus wichtig sein zu wissen, welche Geschwindigkeit ich mit meinem Fahrzeug in einem bestimmten Moment oder an einem bestimmten Ort hatte - unabhängig von meiner Durchschnittsgeschwindigkeit über einen längeren Zeit- oder Weg-Abschnitt.

 

Im Beispiel:         image001 [Der letzte Term heißt (1/100)²]

           = 0,0401 cm²

 

In diesem Fall ist ∆y ungefähr 4/100, während ∆x  genau 1/100 ist. Und der Quotient ∆y/∆x  (auf den kommt es an!) ist ungefähr 4, weil 4/100 das Vierfache von 1/100 ist.

 

Den obigen Ausdruck ∆y = 2x . ∆x + (∆x)² kann man etwas umformen:

 

                         ∆y = ∆x(2x+∆x)

 

Im Beispiel:       image002

 

 

Schließlich       image003

                           

 

Im Beispiel: image004     cm²/cm = 2 . 2 cm +  image005  cm  =  4,01 cm                    

Im Folgenden verwende ich - wie üblich - für die (extrem) „kleinen Zuwächse“ (d.h. die Newtonschen „Momente“, augenblicklichen “Incremente“ bzw. „Decremente“), die Leibnizsche Schreibweise dx, dy, dz usw., die sich sinnvollerweise als Standard eingebürgert hat.

Oder anders ausgedrückt: 

Wenn ∆x bzw. ∆y (jeweils auf eigene Art) als von der Null immer weniger unterscheidend angesehen werden, wenn also eine Annäherung an den Grenzwert Null angesteuert wird, d.h. wenn es sich also nur um jeweils immer kleinere minimale Zuwächse bzw. Differenzen handelt, bezeichnet man ∆x als dx und ∆y als dy (was lediglich eine sinnvolle Konvention zur Andeutung dieser ständigen, fortlaufenden, Veränderungstendenz ist - aber nichts an und für sich Anderes als ∆x oder ∆y  ist). Das Verhältnis dy/dx nähert sich dann in der Regel einer festen Zahl (bei einem vorgegebenen x; im Beispiel war x = 2)  - spätestens (und jedenfalls), wenn man dx nur genügend klein nimmt. Im obigen Fall des Quadrats ergibt sich als feste Zahl 2x; das wäre in unserem Beispiel für x = 2 cm  ->  2.(2 cm) = 4 cm.

(Im Folgenden wird auf die Angabe der Dimension, z.B. cm, kg, sec usw., verzichtet, weil die Überlegungen zum Differentialquotienten universell gültig sind. So wie auch die normalen Zahlen aufgrund ihrer universellen Gültigkeit nur in Ausnahmefällen der Dimensionierung bedürfen).

 

Die grundlegende Behauptung der Differentialrechnung läßt sich demnach für unser Beispiel folgendermaßen darstellen:

               dy/dx = 4

Und zwar exakt gleich 4. Wie ist das zu erklären?

 

Dazu soll als nächstes eine Tabelle dienen, bei der ∆x systematisch immer kleiner wird: also zunächst 1/10 = 1/101, dann 1/100 = 1/102, 1/1000 = 1/103, usw.

Es war oben image002  für ∆x = 1/100 = 1/102

 

Für systematisch kleiner werdendes ∆x (somit also nach der oben dargelegten Konvention dx genannt)  könnte man die Folge 1/10n nehmen, wobei n alle unendlich vielen natürlichen Zahlen 1,2,3,… durchläuft. Wie man an der Tabelle erkennt, wird mit kleiner werdendem ∆x dann auch ∆y immer kleiner (wird also konventionsgemäß zu dy) . Schließlich zeigt sich in der 4. Spalte, wie der Quotient ∆y/∆x (konventionsgemäß sodann dy/dx genannt) sich immer ununterscheidbarer der festen Zahl 4 annähert.

  

n

∆x

∆y

∆y/∆x

1

0,1

0,41

4,1

2

0,01

0,0401

4,01

3

0,001

0,004001

4,001

4

0,0001

0,00040001

4,0001

5

0,00001

0,00004000010000000000

4,00001

6

0,000001

0,00000400000100000000

4,000001

7

0,0000001

0,00000040000001000000

4,0000001

8

0,00000001

0,00000004000000010000

4,00000001

9

0,000000001

0,00000000400000000100

4,000000001

10

0,0000000001

0,00000000040000000001

4,0000000001

Tabelle 03 (1)

 

Während ∆x immer kleiner wird – und damit ebenfalls ∆y - nähert sich der Quotient ∆y/∆x kontinuierlich dem festen Wert 4. De jure rückt die 1 immer eine Stelle weiter nach rechts und das Ergebnis ist auf ewig immer etwas größer als 4. De facto sieht man aber, daß der Grenzwert unweigerlich = 4 ist.

 

Dieser Erfahrung, daß sich für ∆x→0 immer deutlicher eine Konstante für ∆y/∆x herausbildet (im Tabellenbeispiel 4,0000000…1 → 4) versucht die Differentialrechnung auf die Sprünge zu helfen, indem man ganz pragmatisch folgendermaßen denkt:

 

Man nehme das obige einfache Gebilde des Quadrats. Es gilt darin die Beziehung:

 

              dy/dx = 2x+dx.

 

Wenn aber dx sich „kaum“ von Null unterscheidet, so kann man das additive Glied rechts „vergessen“. (Der Ausdruck dy/dx ist sowieso erfahrungsgemäß in vielen anderen Fällen bald schon eine echte Konstante, gleichgültig, wie klein der Wert dx und mit ihm dy noch wird). Jedenfalls nähert sich hier in unserem Beispiel für genügend kleine dx der Wert dy/dx dem Wert 2x beliebig nahe an.

(Es sei ganz nebenbei festzuhalten, daß die entscheidende Errungenschaft, um die es hier bei der Infinitesimalrechnung geht, jene Konstantenbildung (Formel) ist. Es spricht ja manches dafür, daß es Wissenschaft mit der Suche nach `Konstanten´ (sozusagen der feste Grund und Boden, auf dem man weiter aufbauen kann) zu tun hat.)

 

Das Paradox ist für jeden klassisch-algebraisch Denkenden unerträglich:

 

                                               dy/dx = 2x+dx = 2x

 

auf der einen Seite (also auf der rechten Seite der Gleichung) ist dx exakt gleich Null (wenn die Konstante dy/dx gleich 2x ist) auf der anderen (der linken) Seite, darf dx niemals gleich Null werden, da eine Null im Nenner unsinnig wäre, es gäbe dann gar keine Konstante mehr!

Im Falle der Momentan-Geschwindigkeit (= ds/dt) in einem ‘Punkt’ (einer Weg-Zeit-Kurve)  wird die Sache besonders prägnant:

“Wenn ein Teilchen an einem Punkt ist, wie kann es sich da bewegen? Und, wenn es sich nicht bewegt, wie kann es dann eine Geschwindigkeit besitzen? Dieses uralte Paradoxon wird nur durch die Erkenntnis aufgelöst, dass man stets mehr als einen Zeitpunkt heranziehen muss, um die Geschwindigkeit eines Körpers zu beobachten und zu definieren.” (Paul A. Tipler und Gene Mosca: Physik für Wissenschaftler und Ingenieure. Zweite deutsche Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, München 2006, S.24).

Hier sieht man also, wie objektiv wichtig es ist, daß tatsächlich dt im Nenner von ds/dt nicht gleich Null wird, da ja unbedingt ein Zeitintervall (dt ≠ 0) gegeben sein muß, auch wenn es noch so klein ist, damit man sinnvollerweise noch von ‘Geschwindigkeit’ reden kann. - Zwar stimmt die Sache mit dem ‘Punkt’ einerseits tatsächlich (als der Grenzwert), andererseits aber auch wieder nicht - d.h. andererseits handelt  es sich bei dt im Nenner tatsächlich um ein (wenn auch noch so kleines) Intervall Δt = t2 - t1 . Und ein Intervall ist allemal größer als ein einzelner Punkt.

 

Man kann auch sagen: auf der rechten Seite gilt die aktuale Unendlichkeit und auf der linken Seite der Gleichung die potentielle Unendlichkeit. Und zwar gelten beide Unendlichkeiten, die historisch gesehen meines Wissens immer als ausschließender Gegensatz angesehen wurden, hier gleichzeitig . Insofern hatten diverse Mathematiker, wie z.B. Gauss, unrecht, wenn sie behaupteten, es gäbe nur ausschließlich das potentiell Unendliche in der Mathematik. Spätestens seit der Differentialrechnung (also schon seit Newton und Leibniz und nicht erst seit Cantor) gibt es auch notwendigerweise das aktual -Unendliche in der Mathematik. Diese Fachleute haben offenbar versäumt, sich die Bildung des Differentialquotienten genauer anzuschauen (außer Berkeley allerdings, der jedoch kein eigentlicher Mathematiker war und nur den bösen Blick auf die Sache hatte).

 

Die beiden Unendlichkeiten kann man sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen:

1,999999.... ist logischerweise niemals =2, sondern <2, da immer noch eine Kleinigkeit fehlt, egal wie dicht man an die 2 herankommt. Dies ist die potentielle Unendlichkeit. Jedoch, wenn ich den Grenzwert 2 als das tatsächliche Ergebnis dieser unendlichen Folge 1,9999.... ansehe, d.h. wenn ich sage 1,9999.... = 2, so benutze ich hier die aktuale Unendlichkeit . Beides ist offenbar gerechtfertigt. Es handelt sich einerseits tatsächlich um zwei verschiedene Begriffe, um definitiv unterschiedliche Sachverhalte, die sogar miteinander im Widerspruch stehen , denn Gleichheit ist das Gegenteil von Ungleichheit. Aber andererseits können sie, ja sie müssen, gleichzeitig miteinander koexistieren, wie das Beispiel des Differentialquotienten zeigt. Daraus folgt: irgendwie müßte man meiner Ansicht nach die übliche logische Denkweise diesbezüglich korrigieren.

 

Dieses Problem und seine tiefere Bedeutung für ein realistisches Denken auf vielerlei Gebieten genauer zu klären, ist ein weiterführendes philosophisches Anliegen dieser Überlegungen (vgl. nächste Seite “Lösungssuche”).

 

Nebenbei gesagt könnte es sich hier, bei dem gleichzeitigen Gelten der beiden Unendlichkeiten, um einen der Fälle handeln - um einen “Sonderbereich” -  wo der Satz vom Widerspruch (wenigstens erst mal - bis man evtl. eine ‘Lösung’ findet) keine Gültigkeit besitzt. Um zu verdeutlichen, was ich meine, zitiere ich aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 5/2000, S. 65 unter der Rubrik “Internet” aus dem Artikel “Aufregung bei Register” S.65-67:

...Seibold zeigte sich in der Folge als Anhänger absoluter, in jedem Fall gültiger logischer Beweise. Wenn man die Logik antaste, etwa den Satz vom Widerspruch außer Kraft setze, gebe es keine Unterscheidungsmöglichkeit mehr zwischen wahren und nicht-wahren Sätzen, und dann könne jede Behauptung dessen, der diesen Grundsatz in Frage stelle nach Belieben wahr oder unwahr sein. Nun erhob Thorsten Sander Einspruch. Es könne durchaus auch jemand, so argumentierte er, der den Satz vom Widerspruch als logischen Satz anzweifle, zwischen wahr und falsch unterscheiden. Denn der Gegner des Satzes vom Widerspruch behaupte nicht, alle Widersprüche seien wahr, sondern nur, dass wahre Widersprüche existierten, dass der Satz vom Widerspruch also in einigen “Sonderbereichen” keine Gültigkeit besitze. (S. 65)

 

 

Dies sollte also als Einführung in das Problem jener Paradoxie dienen.

 

 

Newton hatte auf andere Weise, nämlich mit der klassischen Methode der einfachen algebraischen Umformung, seine Leser implizit mit der Paradoxie der Differentialrechnung konfrontiert, indem er das Problem listig umschiffen wollte. Bischof Berkeley hat 50 Jahre später dieses listige Verfahren mit den „halben Momenten“ als ebenso sehr mystisch angesehen, wie es religiöse Geheimnisse und Glaubenssätze sind.

  

 

03.2     Was hat es mit den „halben Momenten“ auf sich?

 

Zunächst muss man wissen, was Newton unter einem <Moment> versteht. Eine Veränderung einer Größe (Increment=Zunahme oder Decrement=Abnahme), beispielsweise der Seite x des Quadrates, setzt Newton in physikalische Analogie zur Bewegung, die wachsend oder abnehmend ist. Die Veränderung der Bewegung wird erzeugt durch ein „augenblickliches Increment oder Decrement“ und dies ist für Newton ein positives oder negatives Moment.

 

Der Einfachheit halber werde ich in Zukunft nur noch von Momenten und selten von Incrementen reden und meine damit auch Decremente. Wenn ich Newton richtig verstehe, beruht ein länger anhaltendes Bewegungs-Increment auf einer Serie von bewegenden Momenten, wobei die Größe der Momente für die Größe der jeweiligen Geschwindigkeitsänderung (Fluxion) mit-maßgebend ist. Hier, bei jenen ‚Momenten’ stößt man also auf die verpönten „unendlich kleinen Größen“ der klassischen Infinitesimal-Mathematiker. Die offizielle Lehrmeinung (vgl. Hischer/Scheid, S. 111, S. 114) sagt, daß das Problem in dem unklaren Grenzwertbegriff lag, den erst das 19. Jhdt. klärte. Meiner Ansicht nach lag es aber eher an dem Festhalten an der üblichen logischen Denkweise, das für jene Paradoxie der Differentialrechnung verantwortlich ist, die ja insofern auch heute (trotz aller Epsilontik) nach wie vor fortbesteht. Denn einerseits sollen diese Momente `Größen´ sein (so, daß man sie sogar halbieren kann!), aber andererseits wiederum keine Größen (nämlich so, daß man sie gleich Null setzen kann). Newton formuliert:

 

<Die Momente hören auf Momente zu sein, sobald sie eine endliche Grösse erhalten. Man hat unter ihnen die eben entstehenden Anfänge endlicher Grössen zu verstehen, und betrachtet in diesem Lehnsatze [gemeint ist der Rechtecksatz, der grundlegende Satz des Differential-Kalküls bei Newton, d.Verf.] nicht die Grösse der Momente, sondern ihre Verhältnisse, wenn sie eben entstehen.>[2]

 

Ich möchte nun Bischof Berkeley[3] zu Worte kommen lassen, da dieser das Paradox sehr deutlich gesehen hat, allerdings nicht eigentlich in philosophischer, sondern eher in propagandistischer, gegenaufklärerischer Absicht. Berkeley sagt:

 

<Der wichtigste Punkt in der Fluxionsmethode ist die Berechnung der Fluxion oder des Moments eines Rechtecks oder Produkts aus zwei unbestimmten Größen, weil nämlich von daher Regeln für die Berechnung der Fluxionen aller anderen Produkte und Potenzen, gleich welcher Art die Koeffizienten oder Indizes [Exponenten, d.Verf.]* sind, ob ganze oder gebrochene, rationale oder irrationale Zahlen, hergeleitet werden.

Nun wird man erwarten, daß dieser Fundamentalpunkt sehr klar dargelegt werden sollte, wenn man sieht, wieviel auf ihn gebaut ist und daß sich sein Einfluß durch die ganze Analysis erstreckt. Mag aber der Leser selbst urteilen. Das folgende wird als Beweis angeführt [Philosophiae naturalis principia mathematica II, Lemma 2; Anm.[4]]:> (Jetzt folgt Newtons listiger Beweis, Anm. Verf.):

  

<Angenommen, das Produkt oder Rechteck AB wächst durch eine stetige Bewegung und die momentanen Inkremente der Seiten A und B seien a bzw. b.

        

Als die Seiten A und B noch unvollständig oder um die Hälfte ihrer [momentanen]* Inkremente kleiner waren, war das Rechteck [gleich]

        

(A-½a)×(B-½b),   d.h.  AB-½aB-½bA+¼ab

 

und sobald die Seiten A und B um die beiden Hälften ihrer Momente angewachsen sind, wird das Rechteck

  

(A+½a)×(B+½b)  oder   AB+½aB+½bA+¼ab

 

Wenn man von dem zweiten Rechteck das erste subtrahiert, bleibt die Differenz aB+bA. Deswegen ist das von den vollständigen [momentanen]* Inkrementen a und b erzeugte Inkrement des Rechtecks aB+bA.

W.z.b.w.> [5]

 

 

Dieser Beweis Newtons würde in der heute üblichen Differentialschreibweise für das weiter oben behandelte Quadrat folgendermaßen aussehen:

Die verkürzten oder verlängerten Seitenlängen des Quadrats ergeben für den Flächeninhalt desselben jeweils:

 

(I.)   (x-½dx)² = x²- 2x.½dx +¼(dx)² = x²-xdx+¼(dx)²

(II.) (x+½dx)² = x²+2x.½dx+¼(dx)² = x²+xdx+¼(dx)²

 

Wenn man (I.) von (II.) abzieht, so hätte man die Differenz zwischen dem großen und dem kleinen Quadrat; das müsste dann der entsprechende Zuwachs des Flächeninhalts sein, wenn sich die Seite um genau 1 Moment vergrößert. Es ergeben sich als Summanden auf der rechten Seite:

 

x²-x²=0;

+xdx-(-xdx)=2xdx;

+¼(dx)²- ¼(dx)²=0.

Also ist das Ergebnis dy=2xdx.

 

Und dies wäre dann gleich dem minimalen Zuwachs dy des Flächeninhalts vom Quadrat, so daß gilt: dy = 2xdx und folglich dy/dx = 2x. Das Ergebnis ist also `richtig´, und Newton ist auf elegante formal-algebraische Weise scheinbar ohne das leidige Paradox ausgekommen, da kein dx mehr rechts „vergessen“ werden muß, das links keineswegs vergessen werden darf.

 

Berkeley zeigte auf seine (d.h. die übliche) algebraische Weise, daß hier seines Ermessens was faul ist, denn nach seiner Ansicht wäre doch die normale Methode die, daß die Seiten A und B des Rechtecks schlicht jeweils um genau 1 Moment anwachsen, und man zieht dann das alte von dem neuen Rechteck ab. Und siehe, man erhält ein anderes Ergebnis als Newton. Berkley erklärt:

 

<Doch ist offenbar, daß die unmittelbare und wahre Methode für die Berechnung des Moments oder Inkrements des Rechtecks AB darin besteht, daß man sich die Seiten als um ihre ganzen Inkremente angewachsen vorstellt und sie dann miteinander multipliziert, nämlich A+a mit B+b. Dieses Produkt, nämlich AB+aB+bA+ab ist das vermehrte Rechteck.

Wenn wir AB subtrahieren wird also der Rest aB+bA+ab das wahre Inkrement des Rechtecks sein. Es ist um  ab größer als das, was man nach der ersten unrechtmäßigen und krummen Methode erhielt.

Und das gilt allgemein, was auch die Größen a und b sein mögen, ob groß oder klein, endlich oder infinitesimal, Inkremente, Momente oder Geschwindigkeiten. Es hilft auch nichts zu sagen,  ab   sei eine äußerst kleine Größe, denn man erklärte uns: „In mathematischen Dingen darf man auch über noch so kleine Fehler nicht hinweggehen.>[6]

 

 

Es sieht also ganz danach aus, dass Newton mit seinen “halben Momenten” Mist gebaut hat: seine Beweisführung ist demnach für’n Poppo, doch wusste er von vornherein ja das ‘richtige’ Ergebnis, auf das er hinaus wollte. Sein ‘Rechteckssatz’ ist an sich richtig, wird jedoch anders bewiesen, nämlich einfach, indem von dem inkrementierten Rechteck das ursprüngliche Rechteck abgezogen wird und übrig bleibt dann - wie oben gezeigt - dy/dx = 2x + dx. Nur dass Newton dann vor dem Problem des Widerspruchs von aktual- und potentiell Unendlich gestanden hätte, den er (verständlicherweise) scheute, und deshalb zu der algebraischen List mit den halben Momenten griff, um diesen Widerspruch zu umschiffen.

 

 

03.3  Berkeleys Formulierung der Paradoxie

  

Berkeley bringt die Paradoxie folgendermaßen auf den Begriff:

 

<Doch man sollte meinen, daß diese Begründung   [daß wenn man die (momentanen) Inkremente verschwinden lässt, ihr letztes Verhältnis 1 zu nxn-1 sein wird (für den Fall, die Fluxion von xn  zu finden)] [7]   nicht ausreichend und schlüssig ist, denn wenn man sagt, man lasse die Inkremente verschwinden, d.h. man lasse die Inkremente nichts sein oder es gäbe keine Inkremente, so ist die frühere Voraussetzung, daß die Inkremente etwas wären oder daß es Inkremente gäbe, verneint, und doch wird eine Konsequenz dieser Annahme, d.h. ein Ausdruck, der mit ihrer Hilfe gewonnen wurde, beibehalten. [.. .]  Wenn wir annehmen, daß die Inkremente verschwinden, so müssen wir mit Sicherheit annehmen, daß ihre Verhältnisse, ihre Ausdrücke und alles andere, was aus der Annahme ihrer Existenz hergeleitet wurde, mit ihnen verschwinden.> [8]

 

<[...] Bisher habe ich vorausgesetzt, daß x fließt, daß x ein wirkliches Inkrement hat, daß  o [ siehe Anm.[9]]  etwas ist, und ich bin immer an Hand dieser Voraussetzung, ohne die ich nicht einmal einen einzigen Schritt hätte machen können, vorgegangen. Aus dieser Voraussetzung erhielt ich das Inkrement von xn [z.B. von x2, d.Verf.], durch sie konnte ich es mit dem Inkrement von x vergleichen und das Verhältnis der beiden Inkremente finden [im Beispiel: dy/dx = 2x+dx]. Nun aber bitte ich darum, eine neue Annahme machen zu dürfen, die der ersten entgegengesetzt ist, d.h. ich werde annehmen, daß es kein Inkrement von x gibt, oder daß  o  [=dx] nichts ist. Diese zweite Annahme vernichtet meine erste, sie ist mit ihr unverträglich und also auch mit allem, was sie voraussetzt. Ich bitte trotzdem darum, nxn-1 [im Beispiel: dy/dx= 2.x2-1 = 2x] beibehalten zu dürfen, obwohl sie ein Ausdruck ist, der mit Hilfe meiner ersten Annahme gewonnen wurde, der notwendig diese Annahme voraussetzt, und der ohne sie nicht gewonnen werden könnte. All das scheint eine höchst widerspruchsvolle Art der Beweisführung und eine solche, die man in der Theologie nicht erlauben würde.> [10]

 

Berkeley sieht einen „sehr klaren“ Zusammenhang zwischen dieser Paradoxie und den Newtonschen Formulierungen bzgl. jener seltsam schillernden „Momente“, die einerseits nichts sind und andererseits doch etwas sind:

 

<Wenn Sie [11] unter einem Moment mehr als die allererste Grenze verstehen, muss es entweder eine endliche oder eine infinitesimale Größe sein. Alle endlichen Größen sind aber ausdrücklich vom Begriff eines Moments ausgeschlossen, also muss das Moment eine infinitesimale Größe sein. Obwohl man zwar viel List anwandte, um das Zugeständnis unendlich kleiner Größen zu umgehen oder zu vermeiden, so anscheinend doch erfolglos. Soviel ich sehe, kann man keine Größe als Mittelding zwischen einer endlichen Größe und nichts zulassen, ohne Infinitesimalien zuzulassen. Ein Inkrement, das in einem endlichen Teilchen der Zeit erzeugt wird, ist selbst ein endliches Teilchen und kann deswegen kein Moment sein. Sie müssen also den Teil der Zeit, in dem Ihr Moment erzeugt werden soll, als infinitesimal annehmen. Man sagt, die Größe der Momente werde nicht in Betracht gezogen, und doch nimmt man an, daß dieselben Momente in Teile zerlegt sind. Das ist nicht leicht zu begreifen [...]. Man muss zugeben, daß die Zweckursache oder der Beweggrund für dieses Verfahren sehr klar ist, aber es ist nicht so klar und einfach, einen rechten legitimen Grund dafür darzulegen oder es als ein geometrisches Verfahren[12] zu erweisen.> [13]

 

 

(Fortsetzung 04 - Suche nach Lösung der Paradoxie)

 

 

[1] Ausgabe des dt. Übersetzers J. PH. Wolfers von 1871 Isaac Newton: „Mathematische Prinzipien der Naturlehre“. Ich beziehe mich auf II.Buch, II. Abschnitt, S.234 ff.

[2] Newton, S. 243

[3] in „The Analyst“, ca. 1750; hier zitiert nach der Ausgabe von 1969, Ffm, Suhrkamp

[4] Von dem dt. Übersetzer Wolfers als „Erster Fall“ (Newton, S. 244) bezeichnet.

* Der Zusatz in der eckigen Klammer ist eine Ergänzung des Verfassers, M.A.

[5] Berkeley,  S. 93 (Unterstreichungen und fett gedruckt von mir, M.A.)

[6] Introductio ad Quadraturam Curvarum [Newton, Opera, ed. Horsley]

[7] Der Zusatz in der eckigen Klammer ist eine Anmerkung des Verfassers, M.A. Die Verallgemeinerung auf xn  beruht auf dem Newtonschen Rechtecksbeweis als Fundament.

[8] Berkeley, S. 96 f.

[9] „o“ ist eine Bezeichnung aus der Zeit Berkeleys für das momentane Inkrement dx.

[10] Berkeley, S. 98

[11] Berkeley wendet sich an einen phantasierten Mathematiker in seiner Schrift, deswegen jene Anrede „Sie“.

[12] „Geometrische“ Verfahren (insbesondere des Archimedes) galten seinerzeit als mustergültig für absolut strenge Beweise. Die Mathematiker, die die Infinitesimalrechnung entwickelten, sahen sich jedoch gezwungen neue, z.T. riskante, methodologische Wege zu gehen. (Vgl. Hischer/Scheid, S. 106 ff.)

[13] Berkeley, S. 95